Vorkommen und Eigenschaften
Standort
Der natürliche Standort der Grünerle ist steiles, felsiges, feuchtes und instabiles Gelände (z. B. Lawinentrichter, Bachläufe, nasse Hänge oder Hangrutschungen) im Bereich der Baumgrenze.
Seit einigen Jahrzehnten breitet sich die Grünerle aber auch auf Alpweiden massiv aus und bildet inzwischen 70 % des Gebüschwaldes in den Schweizer Alpen. Wo der Viehbesatz und Weidedruck zu gering ist und / oder keine Mahd stattfindet, kann sich die Grünerle ausbreiten und offene Weiden überwachsen. Ideale Bedingungen findet sie dabei an schattigen, feuchten und bodensauren Nordhängen. Allerdings ist sie nicht strikt an diese Bedingungen gebunden, sondern toleriert auch ein breites Spektrum anderer Standorteigenschaften. Lediglich trockene Südhänge und reine Kalkböden verhindern ihr Vorkommen.
Vom Nischen-Dasein zum Problem-Strauch
Die meisten Standorte, auf denen sich die Grünerle heute ausbreitet, sind nicht ihr natürlicher Lebensraum.
Bevor sich der Mensch in Mitteleuropa stark ausgebreitet hat, wuchs unterhalb der Baumgrenze nahezu überall ein geschlossener Wald. In diesem Wald war die Grünerle nicht konkurrenzfähig, sodass sie nur auf den wenigen Standorten zu finden war, auf denen kein Wald wachsen konnte, wie beispielsweise Blockschutt, Lawinentrichter und Bachläufe. In der Bronzezeit begann der Mensch den subalpinen Bergwald zu roden. Dabei entstanden offene Alpweiden, die zu den artenreichsten Lebensräumen der Welt zählen. Da die Waldbäume hier nun verschwunden waren, wurde die Grünerle auf den offenen Flächen konkurrenzfähig. Allerdings verhinderte der hohe Weidedruck v. a. der Ziegen, und die Brennholznutzung, dass sich die Grünerle weiträumig ausbreitete.
Inzwischen hat sich die Landwirtschaft der Schweiz stark verändert. Die Zahl der Ziegen ist seit 1880 um 80 % zurückgegangen. Die Rinder, welche die Ziegen weitgehend ersetzt haben, schädigen die Grünerle kaum. Dazu kommt, dass ungünstig gelegene Alpweiden immer weniger genutzt werden. Das führt dazu, dass sich die Grünerle dort ungehindert ausbreiten kann, sodass das Weideland und seine Artenvielfalt verloren gehen. Der Mensch hat die Bedingungen dafür geschaffen, dass aus einer einheimischen Nischen-Art ein sich schnell ausbreitender Problem-Strauch wurde.
Eigenschaften
Die Grünerle ist ein schnellwüchsiger Strauch mit sommergrünen Laubblättern und teils niederliegenden Ästen. Weil die Grünerle eine hohe Regenerationsfähigkeit besitzt, treiben abgesägte Äste in der Regel wieder aus. Das erschwert die mechanische Regulierung. Grünerlen können bis zu einigen Metern hoch werden und dichte, undurchdringliche Bestände bilden.
Im Inneren des Grünerlengebüsches ist es dunkel und feucht. Der Pilzdruck ist hoch. Mit diesen Bedingungen können nur sehr wenige Pflanzenarten umgehen. Dort, wo die Grünerle Alpweiden überwächst, schwindet deshalb die pflanzliche und die tierische Artenvielfalt.
Ihren Ausbreitungserfolg verdankt die Grünerle unter anderem der Fähigkeit, Luftstickstoff zu fixieren. Wie die Kleearten lebt auch die Grünerle in Symbiose mit sogenannten «Knöllchenbakterien». Diese binden den Stickstoff aus der Luft und geben ihn an die Grünerle weiter. Dadurch wird der Boden unter den Grünerlen mit Nährstoffen (Stickstoff) angereichert. Die Überversorgung mit Stickstoff und die Beschattung führen dazu, dass sich nur einige wenige nährstoff- und schattenliebende Pflanzen ausbreiten (z. B. Alpendost oder Meisterwurz). Weil diese gut angepassten Arten andere Pflanzen verdrängen, nimmt die Biodiversität weiter ab. Ausserdem wird überschüssiger Stickstoff teilweise ausgewaschen und überdüngt dadurch auch hangabwärts gelegene Flächen und Gewässer. Teilweise wird er auch in Form von Treibhausgasen (z. B. Lachgas oder Stickoxide) an die Luft abgegeben.
Vermehrung
Die Grünerle bildet unzählige, sehr kleine Samen, die über den Wind weit verbreitet werden. So kann sie neue Standorte schnell besiedeln.
Niederliegenden Äste der Grünerle bilden zudem neue eigene Wurzeln. Diese können unabhängig von der Mutterpflanze weiterwachsen. So kann sich die Grünerle an einem Standort schnell in verschiedene Richtungen weiter ausbreiten.
Futterwert
Aus futterbaulicher Sicht ist die Grünerle weniger negativ zu bewerten als viele andere Sträucher und Problempflanzen. Der Unterwuchs und auch die Blätter der Grünerle werden von Schafen, Ziegen und Rindern gut gefressen. Der Futterwert ist vergleichbar mit mageren Alpweiden. Allerdings reduziert das Fressen von Blättern und Unterwuchs den Grünerlenbestand nur langsam. Ziegen und einige Schafrassen schälen zudem die Rinde der Grünerle. Eine Agroscope-Studie fand keinen negativen Effekt auf die Fleischleistung und Fleischqualität von extensiven Schaf-, Ziegen- und Rinderrassen, nachdem sie neben Gras einen Sommer lang bedeutende Mengen an Unterwuchs, Blätter und Rinde der Grünerle gefressen hatten.